„10. Kremser Tage – Wann sind wir good enough?“ Über Selbsterfahrung und Selbstreflexion in Psychotherapie, Medizin und psychosozialen Berufen. Tagung an der Donau-Universität Krems | 31.5.-1.6.

Über Selbsterfahrung und Selbstreflexion in Psychotherapie, Medizin und allen psychosozialen und Gesundheitsberufen diskutieren die „10. Kremser Tage“ am 31. Mai und 1. Juni an der Donau-Universität Krems. Veranstalter ist das Department für Psychotherapie und Biopsychosoziale Gesundheit, dem Univ.-Prof. Anton Leitner vorsteht. magzin.at sprach mit René Reichel, der die Kremser Tage koordiniert und moderiert.
10. Kremser Tage - 31. Mai und 1. Juni 2013 - Tagung an der Donau-Universität Krems
„10. Kremser Tage“ - 31. Mai und 1. Juni 2013 an der Donau-Universität Krems

Wie ein Damoklesschwert schwebt der Perfektionismus des stets „Immer-noch-besser-Sein-Müssens“ heute über unseren Köpfen. „Wann sind wir ‚good enough‘?“ heißt daher der Titel der „10. Kremser Tage“ an der Donau-Universität Krems (DUK), die am 31. Mai und 1. Juni stattfinden. Veranstalter ist wie jedes Jahr das Department für Psychotherapie und Biopsychosoziale Gesundheit der DUK, dem Univ.-Prof. Anton Leitner vorsteht, der Wegbereiter der Integrativen Therapie (IT) und „Brückenbauer zwischen Medizin und Psychotherapie“ in Österreich.

Selbsterfahrung als psychosoziale Kraft – produktiv, doch vernachlässigt

Der ganze Titel der Kremser Tage lautet in diesem Jahr: „Wann sind wir ‚good enough‘?“ Selbstreflexion – Selbsterfahrung – Selbstsorge“. Vier Vorträge, sieben Workshops und eine Theaterproduktion gehen an zwei Tagen der Frage nach: Was bedeuten Selbsterfahrung und Selbstreflexion? Welchen Stellenwert haben sie heute? Und welchen sollten sie haben? – in der Psychotherapie, in Medizin und Gesundheitsprävention, in allen Gesundheits- und psychosozialen Berufen. Wie sieht die Gehirnforschung die Selbstreflexion? Und wie die Entwicklungspsychologie die Selbstreflexion bei Kindern und Jugendlichen? Was tragen Körper und Bewegung zu Selbsterfahrung und Selbstreflexon bei?

Ein Höhepunkt der „10. Kremser Tage“ ist die Erstpräsention von Ergebnissen des Forschungsprojekts des Departments zur Selbsterfahrung in Psychotherapie und Supervision. Mit der Frage nach der „Selbstsorge“ wird auch das Thema diskutiert: Ist Selbstreflexion eine „vierte Kulturtechnik“, die weitaus mehr gelehrt und gefördert gehörte? Sind mehr Selbsterfahrung und Selbstreflexion notwendig, damit der Einzelne den Anforderungen moderner Gesellschaft gewachsen ist? Damit ein gutes Leben gelingt? Zuletzt geht es daher auch um Philosophie, um Michel Foucaults Überlegungen zur „Selbstsorge“ und zur Sexualität.

Die „Kremser Tage“ wenden sich an Interessierte aus allen psychosozialen und gesundheitlichen Berufen. Hervorgegangen sind sie einst aus den „Psy-Med-Tagen“ für Ärzte an der Donau-Universität Krems. Koordiniert und moderiert werden die „Kremser Tage“ von René Reichel, dem Fachbereichsleiter Beratung und Supervision am Department für Psychotherapie und Biopsychosoziale Gesundheit. Mit ihm sprach magzin.at

Der Geschmack der Freiheit – Selbsterfahrung im Psychoboom der 70er und 80er Jahre

Vier große Entwicklungslinien laufen im Grunde im diesjährigen Thema der „Kremser Tage“ zusammen. Erstens: Der Psychoboom der 1970er und 1980er Jahre machte vielen die „Selbsterfahrung“ schmackhaft. „Selbstfindung und Selbstverwirklichung haben damals die Schlagworte geheißen, die sich zum Teil sehr gut vermarktet haben“, erklärt René Reichel. „Dieser Markt ist auch heute riesig und nicht kleiner geworden.“ Wohl aber, so Reichel, hat er sich entmischt und klarer aufgespalten: in seriöse, fundierte Psychotherapie einerseits und die Bereiche, die dem „Esoterik-Markt“ zuzuschlagen sind, andererseits. „Diese klare Trennung wurde vom Psychotherapie-Gesetz von 1991, über das wir sehr glücklich sind, sehr stark unterstützt.“

Seit Sigmund Freud – Selbsterfahrung als fixe Größe der Psychotherapie

Seit Sigmund Freud, seit Beginn der Psychotherapie gehört die „Lehranalyse“, die Selbsterfahrung und Selbstreflexion beinhaltet, zum Standard der Ausbildung in der Psychotherapie. Die Lehranalyse ist somit Voraussetzung für die Arbeit als Therapeut. Auch in Beratung und Supervision wurde das ähnlich übernommen. Aber Ausmaß und Länge der Lehranalyse variieren stark je nach therapeutischer Schule. Warum?

Nie ist, erklärt René Reichel, bislang nachgeprüft worden, worauf diese Unterschiede beruhen. Oder auch, was Selbsterfahrung nun eigentlich ist? „Warum machen die einen 50 Stunden und die anderen 500? Es ist nie genauer wissenschaftlich untersucht worden, was das soll. Genauso wenig, wozu man überhaupt Selbsterfahrung braucht?“ Den vielen Forschern am Department für Psychotherapie und Biopsychosoziale Gesundheit in Krems hat sich daher, so René Reichel, „das Thema förmlich aufgedrängt: Selbsterfahrung? Das ist irgendetwas, wo man über sich selbst redet, aber nichts lernt, was abprüfbar ist. Was ist das dann eigentlich? Und wo und wozu ist es gut?“

Der Reiz der Persönlichkeitsentwicklung – Selbsterfahrung ist attraktiv für die klassischen Berufe

Die dritte Linie, die ins Thema der „Kremser Tage“ mündet: In den Bereichen Medizin, Sozialarbeit, Pädagogik und auch Psychologie ist „Selbsterfahrung“ kein Bestandteil der Ausbildung. Auch nicht bei Lehrern und Krankenpflegern. Dennoch, oder auch deswegen, besteht heutzutage in diesen Berufsgruppen, so René Reichel, ein großes Interesse, Weiterbildungen in Psychotherapie, Beratung und Supervisison, in denen „die Reflexion der eigenen Person ein Wesenmerkmal der Ausbildung ist“, zu besuchen.

„Das besonders Interessante daran ist“, führt René Reichel weiter aus, „dass diese Weiterbildungen nicht nur absolviert werden, um eine zusätzliche Qualifikation zu erhalten, sondern auch wegen der Selbsterfahrung, die diese enthalten. Der Aspekt der Selbsterfahrung und Selbstreflexion ist offensichtlich daran anziehend. Oder, wie das auch genannt werden kann, die Gelegenheit zu einer strukturierten Persönlichkeitsentwicklung.“

Moderner Gesellschaftswandel – jeden Tag sich
neu erfinden (müssen)

Die vierte Linie im Themenfeld der „10. Kremser Tage – Wann sind wir good enough?“ ist der Gesellschaftswandel. „Der Anteil an unserem Leben, der als Selbstverständlichkeit gilt, hat sich seit 50 Jahren systematisch immer mehr verkleinert“, erläutert René Reichel. Die Selbstverständlichkeit vorgegebener Lebensformen und Lebensziele, die frühere Generationen formte, verliert in unserer Zeit ihre Bedeutung. Das Individuum ist freier und doch viel mehr in das Wagnis gestellt, sich selbst und andere zu verfehlen. „Heutzutage muss man sich selbst, sein Leben und seine Einstellungen ständig neu erfinden. Plakativ gesagt: der Anteil an Reflexion, des Über-sich-selbst-Nachdenkens, den jeder vollziehen muss, ist im Steigen.“

Der Begriff der „Selbstsorge“ fasst diese Situation zusammen. Wie sind die neuen Ansprüche und Anforderungen lebbar? „Wie komme ich konkret mit dieser komplizierten und komplexen Lebenssituation zurecht?“ Und zwar auf einem guten Weg und als gelingendes Leben – ohne Beschädigung und Pathologien. „Wie werde ich davon nicht überrollt und überfordert?“ erläutert René Reichel weiter, „sondern wie finde ich meinen Weg in der Gesellschaft, einen guten Weg, der mir selbst gut tut. Das verbindet sich mit dem Begriff der Selbstsorge.“ In dieser „Selbstsorge“ sind Selbstreflexion und Selbsterfahrung als wichtige Faktoren und entscheidende „Kulturtechnik“ enthalten. Die „10. Kremser Tage“ greifen somit das Thema auch ganz grundlegend auf – als Frage nach Gesellschaft und Kultur und dem von ihnen bereiteten „Schicksal“ des modernen Individuums.

Vorträge 1. Tag: Selbstreflexion in der Neurobiologie und Selbstreflexion bei Kindern und Jugendlichen

Aus neurobiologischer Sicht beleuchtet Univ.-Prof. Christoph Pieh (DUK) im Erstvortrag der „10. Kremser Tage“ das Thema Selbstreflexion. Ist das menschliche Gehirn durch die Neurowissenschaften bald entschlüsselt? Sind Denken, Gefühle oder unsere Identität letztlich nur elektrophysiologische Prozesse, abbildbar und aufdeckbar? „Es geht in diesem Vortrag auch darum“, erklärt Reichel, „das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass die Gehirnforschung zwar auf einem spannenden Weg, aber noch weit davon entfernt ist, wirklich brauchbare Antworten liefern zu können.“

Um die Sicht der Entwicklungspsychologie geht es im zweiten Vortrag. Klaus Fröhlich-Gildhoff von der Evangelischen Hochschule Freiburg spricht über Selbstreflexion und Selbstverantwortung bei Kindern und Jugendlichen. Ab wann und wie lassen sich diese fördern und anregen? „Ein amerikanischer Psychologe meinte“, fügt René Reichel hinzu, „dass Reflexion als vierte Kulturtechnik von jedem erlernt werden müsste: Lesen, Schreiben, Rechnen, aber auch Reflektieren.“

Workshops: Körperbewegung, Biographiearbeit
und „midlife-crisis“

Sieben Workshops folgen am Nachmittag des ersten Tags. Ganz unterschiedliche Themenzugänge werden in ihnen vermittelt. Den Workshop „Bewegt! Selbstreflexion und Selbstsorge mit Körper und Bewegung“ leitet Konstanze Eppsteiner. Methoden der Biografiearbeit und ihre Relevanz für die Entwicklung von Selbstkompetenz und persönlicher Identität stellen Sylvia und Wolfgang Keil im Workshop „Biografiearbeit“ dar.

Rene Reichel, der die Kremser Tage moderiert, führt den Workshop „Halbzeit? Pause!“. Es geht um Persönlichkeitskrisen in der Lebensmitte. „Hinter dem Wort midlife-crisis, das sehr oberflächlich ist, verbirgt sich eine komplexe und spannende Problematik“, erklärt Reichel. „Es macht viel Sinn, in einer solchen Krisenphase Zwischenbilanz zum eigenen Leben zu ziehen – sozusagen wie in der Pause eines Fußballspiels in die Kabine zu gehen und sich zu fragen, wie lege ich die zweite Halbzeit an?“

Workshops: Selbstsorge für Gesundheitsberufe und Selbstwahrnehmung als Gesundheitsprävention

Den Workshop „Balintgruppen als Selbstsorge“ leiten Regina Magdowski und Hans Peter Edlhaimb. Ihr Thema lautet Balint-Arbeit als Entlastung und effiziente Burnout-Prophylaxe für Mediziner und Gesundheitsberufe. Ein weiterer Workshop, geleitet von Luise Zieser-Stelzhammer, geht der Frage nach: „Selbstwahrnehmung – die bessere ‚Gesundenuntersuchung‘?“ Würde eine verbesserte eigenleibliche Selbstwahrnehmung, sofern sie gelehrt und gelernt wird, die allgemeine Gesundheitsprävention verbessern?

Wie Selbstreflexion messen? Und Foucaults Konzepte der „Selbstsorge“

Wissenschaftstheoretischen und philosophischen Diskussionen widmen sich die beiden weiteren Workshops. Wie sind Selbstreflexion und Selbsterfahrung objektivierbar und wissenschaftlich messbar? Im diesbezüglichen Workshop geben Alexandra Koschier und Gregor Liegl Einblick in die Forschung. Und im Workshop von Hans Waldemar Schuch stehen Michel Foucaults Überlegungen zur Lebensführung als „ästhetischer Praxis“ und zur Sexualität im Mittelpunkt. Zum Abschluss wird René Reichel die Ergebnisse der Workshops zusammenführen. Dann folgt Theateraction – mit „Ich bin ich, oder?“ aus dem Projekt „Visionen in Bewegung“ von Auguste Reichel.

Der zweite Tag: Erstpräsentation der neuesten Forschungsergebnisse und Selbsterfahrung statt „Kognitivierung von Erfahrung“

Die Vorträge des zweiten Tags eröffnet Renate Frühmann. Sie erörtert „Selbst-Erfahrung“ als die unverzichtbare „Basis tragender Erkenntnisse“ in Therapie, Beratung und Supervision. Sie betrachtet auch deren Institutionalisierung – von der Erfahrungsnähe der Gründerzeit hin zur fortschreitenden Reglementierung und „Kognitivierung von Erfahrung“. Mit besonderer Spannung ist auch dem Abschlussvortrag entgegenzusehen. Erstmals werden Ergebnisse des aktuellen großen Forschungsprojekts des Departments präsentiert: zur Bedeutung und Rolle von Selbsterfahrung in der therapeutischen Ausbildung.

„Da sind wir alle ganz neugierig darauf“, sagt Reichel. Das Forschungsprojekt ist empirisch, qualitativ und quantitativ. „Die Fragestellung ist, wie sehen Therapeuten und Supervisoren im Rückblick auf ihre Ausbildung den Stellenwert und die Wichtigkeit von Theorie, Supervision und Selbsterfahrung?“ Anton-Rupert Laireiter, Michael Märtens und Brigitte Schigl werden den Vortrag gestalten und mit den Konferenzteilnehmern diskutieren. Danach wird Anton Leitner die Schlussworte der „Kremser Tage“ 2013 sprechen.

*****
Andreas Wagner, Chefredakteur von magzin.at

 

magzin.at dankt René Reichel und Gerhard Hintenberger von der Donau-Universität Krems für das Interview.

Der Artikel steht als pdf zum Download kostenfrei zur Verfügung::[wpdm_file id=60]

 

10. Kremser Tage
Wann sind wir ‚good enough‘?
Selbstreflexion – Selbsterfahrung – Selbstsorge

31. Mai und 1. Juni 2013
an der Donau-Universität Krems

 

Veranstalter:
Department für Psychotherapie und Biopsychosoziale Gesundheit

der Donau Universität Krems
in Kooperation mit der
Österr. Gesellschaft für Psychosomatik u. Psychotherapeutische Medizin (ÖGPPM)

Programm, Anmeldung und alle weiteren Infos unter:
www.donau-uni.ac.at / Kremser Tage

Bild / Bildmontage: © Donau-Universität Krems
artikelende