Für Markéta Pilátová, die seit Anfang September Writer-in-Residence in Krems ist, fühlt es sich wie eine Rückkehr in die Kindheit an. Die tschechische Autorin ist im ostmährischen Kroměříž (Kremsier) aufgewachsen, einem kleinen verträumten Städtchen am dominanten Fluss Morava (March). Und genau diesen Gegensatz, ruhiges Städtchen am wilden, mächtigen Fluss, hat sie in Krems wieder entdeckt und schätzen gelernt. Markéta Pilátová mag es, wenn das Leben aus Gegensätzen besteht.
„Politisch inkorrekt, aber notwendig“ – der degradierte Professor entfachte das Feuer
Die Autorin hat mehr als fünf Jahre in Lateinamerika gelebt, hauptsächlich in Brasilien und Argentinien. Das lateinamerikanische Feuer hat ein gewisser Professor Černy von der Universität Olmütz in ihr entfacht. Besagter Professor hat vor 1968 („Prager Frühling“ / Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes) und nach 1989 („Samtene Revolution“ / Zusammenbruch des Kommunismus) an der Universität unterrichtet.
In den Jahren dazwischen war er degradiert, hat hauptsächlich als Übersetzer und Dolmetscher in Kuba gearbeitet und in Mariánské Lázně (Marienbad) Spanisch unterrichtet. Er war, wie Markéta meint, „politisch inkorrekt, aber notwendig!“ Er hat seinen Studenten vom lateinamerikanischen Paradies vorgeschwärmt, von den wunderbaren Menschen und dem großartigen Essen … und so ist Markéta eines Tages für sechs Monate in Mexiko gelandet. Später hat sie dann selbst acht Jahre lang „Lateinamerikanische Realienkunde“ an der Universität unterrichtet.
Vom Zusammenbruch des Kommunismus zur „Universität des Lebens und der Liebe“
Die oben erwähnte „Samtene Revolution“ hat auch Markétas Leben grundlegend verändert. Davor hat sie nur an Auswandern gedacht, ein Leben in einem Gefängnis namens Kommunismus konnte und wollte sie sich nicht vorstellen. Da ihr Vater kein Kommunist war, wäre ihr ein Studium mit Sicherheit verwehrt geblieben.
Nach der Wende studierte sie Latein, Geschichte, Spanisch und Portugiesisch und genoss die unverhoffte Freiheit, die ganze Welt bereisen zu können. Was fehlte, war das Geld. Mit 100 US$ und ihrem Freund trampte sie sechs Monate durch die Türkei. „Das war die Universität des Lebens und der Liebe“ schmunzelt Markéta, die ihren Freund nach dieser bestandenen „Bewährungsprobe“ geheiratet hat.
Die Reportage als Non-Plus-Ultra des Schreibens – vom Journalismus zur Schriftstellerei
Zum Schreiben kam sie als Journalistin. Sie unterrichtete an der Universität Granada und verfasste gemeinsam mit ihrem Mann eine Reportage für die tschechische Wochenzeitung „Respekt“. Die Reaktion war überwältigend – sie bekamen beide einen Job bei der Zeitung!
Das war der Beginn ihrer schriftstellerischen Karriere und sie bezeichnet die Reportage heute noch als das Non-Plus-Ultra des Schreibens, eine Gratwanderung zwischen Wahrheit und Märchen, ein Einfangen von Atmosphäre. Die Erfahrung der Reportage hat ihr geholfen, Charaktere zu erfinden und sie nennt Truman Capote, Ernest Hemingway, Gabriel Garcia Marques, ihren Landsmann Jachým Topol und Bruce Chatwin als ihre Mentoren.
Nach Lateinamerika, um das Wilde zu entdecken
In ihren fünf Jahren Lateinamerika hat sie am meisten die Ruhe und das Leben in Frieden vermisst. Sie ist nach Lateinamerika gefahren, um das Wilde zu entdecken und hat gemerkt, dass sie genau das Gegenteil braucht.
Auch dieser Kontrast Reich-Arm und die vielen Menschen, die rein gar nichts haben, haben ihr gezeigt, dass sie da nicht auf Dauer leben kann, auch wenn sie einen tollen Job gehabt hat und tschechischen Einwanderern der zweiten Generation Tschechisch unterrichtete. Lateinamerika wird es für sie als Urlaubsdestination aber immer geben, denn diese Wildheit der großen Städte und nicht weit davon entfernt die Wildheit der Natur – das ist schon etwas Faszinierendes!
Lob Europas – Sozialstaat, Bildung und Individualismus als Pluspunkte
Die Frage, für welchen Kontinent, Europa oder (Latein-)Amerika sie sich entscheiden würde, hätte sie die Wahl, beantwortet sie ohne zu zögern mit „Europa“. „Spanien“ schiebt sie als Kompromisslösung nach, denn dort lebt man den lateinamerikanischen Rhythmus und es gibt auch gutes Essen.
Lateinamerika findet sie auf Dauer zu anstrengend, einfach viel zu gefährlich, ständig muss man auf der Hut sein, nicht ausgeraubt zu werden. In ganz Lateinamerika gibt es kaum Wohlfahrtssysteme, ein großer Familienverband ist daher notwendig und das findet sie schrecklich. Da lobt sie sich den Individualismus in Europa, die soziale Sicherheit, das Gesundheitssystem und die Bildungspolitik.
Pilátovás bejubelter erster Roman: „Wir müssen uns irgendwie ähnlich sein“
Die Handlung ihres ersten Romans „Wir müssen uns irgendwie ähnlich sein“ (Residenz Verlag 2010) besteht aus mehreren zusammenlaufenden Geschichten. Den darin vorkommenden Charakteren ist sie zum Teil begegnet, zum Teil hat sie Markéta Pilátová erfunden, basierend auf tschechischen Einwanderern in Brasilien und ihren Geschichten.
Die Einwanderungsgeschichte, so Markéta, ist ein einziges großes Märchen, eine Familiengeschichte, die immer und immer wiederkehrt, und in einer großen Lüge resultiert. So gesehen ist ihr Buch ebenfalls auf Lügen aufgebaut. Ursprünglich hätte sie eine Reportage zu diesem Thema schreiben wollen, aber Jachým Topol hat ihr geraten, lieber einen Roman zu schreiben.
Bücher sind wie Teppiche gewoben
Markéta Pilátová wohnt hier in Krems in einer ehemaligen Teppichfabrik und das Thema Teppich begleitet sie schon seit langem. Für sie sind Bücher wie Teppiche – viele Farben und bunte Stimmungen, denen sie durch das Schreiben eine gewisse Form gibt und einen Teppich daraus webt. Dieses Handwerk hat sie übrigens in Granada gelernt.
Prag hat sich verwandelt
Wir springen ständig zwischen Ländern und Kontinenten. Der Fall des Eisernen Vorhangs 1989 hat Prag zu einem Mekka für Touristen gemacht. Das „Alte Prag“ eines Bohumil Hrabal ist längst nicht mehr dort, wo es in seinen Büchern angesiedelt war. „Ein großes literarisches Klischee“, meint Markéta, am ehestens würde man das heute im Stadtteil Holešovice finden, verrät uns die Autorin. Dort leben viele Roma und Künstler, wie Schriftsteller und Maler, es gibt keine schicken Cafés, nur Gaststätten und Bierlokale, keine Touristen, einfach ein cooler Ort und nennt als Geheimtipp das Künstlerzentrum „DOX“.
Pilátovás brandneuer Roman „Mein Lieblingsbuch“
In ihrem brandneuen deutschen Titel „Mein Lieblingsbuch“ (Verlag Braumüller 2012) spielt eine Sammlung slawischer Märchen eine wichtige Rolle. Da fließt ihre eigene Kindheit ein, ein Buch mit russischen Märchen, die unglaublich brutal waren. Als Kind war sie vom Tod fasziniert, da konnte selbst die menschenfressende Hexe Baba Jaga keinen Schrecken einflössen. Dieses Märchenbuch war für Markéta das erste wichtige Buch und dem hat sie jetzt eine Art literarisches Denkmal gesetzt.
Der „Tsunami Blues“ in Krems
In Krems möchte sie eine Geschichte fertig schreiben, die „Tsunami Blues“ heißen wird. Das wird ein tschechisch-kubanisches Buch, das darauf basiert, dass die kubanische Revolution für viele Tschechen etwas Faszinierendes war, das aber spätestens Mitte der Siebziger Jahre einer Ernüchterung gewichen ist. In altbewährter Manier wird Markéta Pilátová Fakten und Fiktion vermischen und in der ehemaligen Teppichfabrik in Krems-Stein einen bunten literarischen Teppich entstehen lassen.
Über die Autorin – Markéta Pilátová
Markéta Pilátová wurde 1973 in Prag geboren. Nach einem Studium der Romanistik und Geschichte ist sie heute als Autorin, Übersetzerin und Journalistin tätig. Sie lebte lange in Lateinamerika und arbeitet derzeit in der Kulturabteilung des Prager Instituto Cervantes. Ihr erster Roman, „Wir müssen uns irgendwie ähnlich sein“, wurde sowohl von Kritik als auch Publikum in Tschechien gefeiert. Im September 2012 erschien auf Deutsch im Braumüller Verlag „Das Lieblingsbuch“. (Aus dem Tschechischen von Julia Koudela-Hansen-Löve und Christa Rothmeier)
Lesung Markéta Pilátová
in Wien am 25. Sep. 2012, ab 19 Uhr
im Salon Dependance Ost
im Buchkontor, 1150 Wien, Kriemhildplatz 1
weitere Infos unter:
www.ulnoe.at sowie www.buchkontor.at
Cover „M. Pilatova: Wir müssen uns irgendwie ähnlich sein“: © Residenz Verlag
Cover „M. Pilatova: Lieblingsbuch“: © Braumüller Verlag