Litauen kennen viele von den Supermarktregalen als Herkunftsland der begehrten Eierschwammerl. Doch im südlichsten der baltischen Staaten gedeiht auch exzellente Literatur, wie der aktuelle Ateliergast des Literaturhauses NÖ, Eugenijus Ališanka beweist.
„Ich muss in früheren Leben in dieser Stadt gelebt haben“
In Krems hat er sich vom ersten Tag an wohl gefühlt. Eugenijus mag kleine Städte, weil dort ein langsamerer Lebensrhythmus vorherrscht, weil da einfach drauf los gelebt wird und nicht versucht wird, andere zu kopieren und man sich nicht beweisen muß. Städte, in denen man sich zu Fuß bewegen kann und die der Natur nicht herausgerissen wurden. Die Stadt Krems kann mit all dem aufwarten. So wie sich Krems zwischen Weingärten und Donau gemütlich ausstreckt, fasziniert ihn an der Stadt vor allem ihre architektonische Aussagekraft, die schmalen gepflasterten Gassen und die historischen Spuren.
Eugenijus hat fast sein ganzes Leben in Vilnius, der litauischen Hauptstadt, gelebt, aber fühlt sich dennoch sehr stark von Städten wie Krems angezogen. In solchen Städten entspricht der Lebensrhythmus seinem Schreibrhythmus – der Möglichkeit im Text langsam herumzuspazieren, jederzeit umzudrehen, sich Schritt für Schritt vorwärtszubewegen. „Manchmal denke ich“, meint Eugenijus Ališanka, „dass ich in meinem früheren Leben in genau so einer Stadt gelebt haben muß!“
Die ganze Sowjetunion „abgeklappert“ – ein Nachfahr des Eroberers Tamerlan
Wie viele der Ateliergäste in TOP 22, dem SchriftstellerInnen-Atelier des Literaturhauses NÖ, ist auch Eugenijus Ališanka ein Reisender. Früher, als er noch hinter dem „Eisernen Vorhang“ leben mußte, hat er den Großteil der Sowjetunion „abgeklappert“, war am Kaukasus, im Pamirgebirge, hat die Karpaten und das Krimgebirge „erobert“.
Als Litauen 1991 die Unabhängigkeit zurückerlangte, haben sich für ihn neue Möglichkeiten des Reisens aufgetan und denen ist er heillos verfallen. Vielleicht war da von Haus aus etwas Nomadisches in seinem Blut, meint der Autor, vielleicht von seinen Vorfahren her, denn wie Dokumente belegen, stammt seine Familie von der Nichte des berühmten zentralasiatischen Eroberers Tamerlan (1336–1405) ab …
Es gibt nur EINE Welt – spirituelle und literarische Erfahrung sind eins
In der Literatur jedoch hatte er nie die Absicht, die „eroberten Länder“ zu dokumentieren. In seinen ersten Büchern war er sehr angetan von inneren, spirituellen Kontinenten und Landschaften und sehr abstrakt in seiner Lyrik. Erst später tauchten in seinen Gedichten konkrete geographische Bezüge auf. Wohl hauptsächlich deshalb, weil sich seine Vorstellung von Lyrik verändert hatte.
Eugenijus wollte die Welt nicht mehr in zwei Hälften teilen, in eine physikalische und eine spirituelle. Er hatte mehr und mehr erkannt, daß es nur eine Welt gibt, dass spirituelle und literarische Erfahrungen untrennbar verbunden sind mit konkreten Menschen und Plätzen. „Ich war nie an touristischer Literatur interessiert, die nur darauf abzielt, über das Reisen zu schreiben. Reisen ist doch nur ein Zusatzaspekt der Literatur!“
„Manche Reisen sind aufregender als das Schreiben!“
Wie andere Kollegen und Kolleginnen, etwa die Grand Dame der slowakischen Lyrik, Mila Haugová, schreibt auch Eugenijus nicht während einer Reise, macht sich bestenfalls Notizen. „Manche Reisen sind einfach aufregender als das Schreiben!“ Er schreibt nur, wenn er sich für längere Zeit wo niederläßt, wie zum Beispiel hier in Krems, wo er konzentriert arbeiten kann und von der (An-)Reise schon Abstand gewonnen hat. Und sein Schreiben hat da nicht unbedingt mit dem Ort zu tun, wo er sich gerade aufhält.
In diesem Zusammenhang fällt ihm immer die Geschichte eines Malers aus einer Kurzgeschichte von R.H. Chesterton ein. Wenn er malte, hat er sich immer die schönsten Plätze und Landschaften ausgesucht und … nur Teufel und Engel gemalt. So kann Eugenijus in Krems gut über Vilnius und den letzten Frühling schreiben und im nächsten Frühling kommen dann Krems und seine herbstlich verfärbten Weingärten dran.
In letzter Zeit ist sein Landhaus nahe Vilnius zum bevorzugten Ort des Schreibens geworden. Da sitzt er im Dachgeschoß – an dessen Fertigstellung er ein halbes Jahr lang zehn bis zwölf Stunden pro Tag geschuftet hat – und genießt die Abendsonne, wie sie über den brach liegenden Feldern und den Pinienwäldern untergeht.
Von der Schwerstarbeit des Dichtens von Gedichten
Aber trotz dieser Idylle ist das Schreiben von Gedichten Schwerstarbeit. Eugenijus Ališanka findet den Anfang sehr schwierig, die erste Zeile zu finden, aus der das Gedicht entstehen könnte. „Oft weiß ich gar nicht, worüber das Gedicht überhaupt gehen soll, erst gegen Ende hin wird das ein wenig klarer … Ich kann stundenlang dasitzen, bevor ich die erste Zeile gefunden habe, aber wenn das Gedicht in Bewegung kommt, wenn aus der erste Zeile die zweite entsteht und so weiter, dann dauert es nicht mehr als ein oder zwei Stunden, bis das Gedicht geschrieben ist.“
„Im ersten Überschwang ist das Gedicht natürlich genial, deshalb lege ich es zwecks Fermentierung für längere Zeit in einer Lade (bzw. eher in einer Computerdatei) ab. Wenn ich dann wieder an das Gedicht zurückkehre, weiß ich erst, ob es überhaupt was wert ist. Manchmal ist es gerade mal wert für den Papierkorb, manchmal, um umgeschrieben zu werden und ganz selten, um veröffentlicht zu werden. Normalerweise zeige ich die besten Texte meiner Frau, sie ist Psychologin und Herausgeberin, und ihr Urteil ist sehr oft fatal. Wenn ein Gedicht da mal durch ist, kann es veröffentlicht werden. Bereits veröffentlichte Gedichte greife ich nicht mehr an, schließlich sind die ja schon tot …“
„Das Leben, ein nicht enden wollendes Gelage an Möglichkeiten“
Eugenijus Ališanka hat weder Germanistik noch Literaturgeschichte studiert. Er hat ein Mathematikstudium abgeschlossen, aber diesen Beruf nie ausgeübt. Er hat als wissenschaftlicher Forscher am Institut für Kunst und Kultur gearbeitet, hat Artikel verfasst und Konferenzen besucht. „Wenn ich kein Dichter wäre“, lacht Eugenijus, „würde ich, wie ein bulgarischer Autor mal geschrieben hat, gerne Eisverkäufer sein und jeden Winter bankrott gehen!“
So kreist er eben durch die Literatur und hat das Gefühl, daß sich seine Jugend schön langsam dem Ende neigt. „Weil nur in der Jugend hast du das Gefühl, daß noch alles auf dich wartet, daß du noch alles werden kannst, was du werden möchtest, dass das Leben ein nicht enden wollendes Gelage an Möglichkeiten ist. Es ist vielleicht so, wie ich vor ein paar Jahren im Gedicht identitätskrise geschrieben habe.“
identitätskrise
wer wäre ich wenn ich wirklich wäre
nicht so wie jetzt ein mensch
unklar welchen glaubens kopf für sich
(…)
ein fahrer für fernreisen wäre ich
sonstwas essen sonstwas denken
wo immer schlafen mit wem auch immer
(…)
ölverschmierten hände säubern keine feminismen
patriarchalischer verteidiger der vielweiberei
und sei es nur für eine nacht
(…)
intelligenzlerische klagen über den sinn des seins
niemandem blieb ich was schuldig niemand mir
durchs leben würd ich fahren mit dem truck durch europa
und ihr könnt mich alle mal
Aus: „Aus ungeschriebenen Geschichten“ (übersetzt und mit einem Nachwort von Klaus Berthel), DuMont Verlag, Köln 2005.
Ein kompletter Außenseiter in Europa: Litauens Literatur
Eugenijus Ališanka ist neben Tomas Venclova der einzige litauische Lyriker, der bei einem (großen) deutschen Verlag veröffentlicht. Und das, obwohl die Entfernung zwischen den beiden Ländern nicht so groß ist. Eugenijus meint, dass einige litauische Autorinnen und Autoren bei kleineren Verlagen in Deutschland (und auch in Österreich) sehr wohl zu finden wären.
Er sieht das nicht so dramatisch und meint, daß es mit Übersetzungen in andere Länder noch schlimmer wäre. Unlängst stellte sich beispielsweise heraus, daß er der erste litauische Autor überhaupt war, der ins Flämische übersetzt wurde …
Die Weltwirtschaftskrise hat die Kultur noch weiter marginalisiert
In Ländern wie Frankreich oder Tschechien ist die Situation auch nicht besser. „Die Situation der Lyrik ist ja bekannt, Verlage wollen keine Verluste machen – und bestenfalls keinen Verlust macht man, wenn man einen Nobelpreisträger veröffentlicht. Aber in Litauen würde man selbst damit einen Verlust einfahren …“
Eugenijus vermutet, dass Deutschland am meisten von allen Ländern an osteuropäischer Literatur interessiert ist. Für ihn scheint es, daß die letzte Krise nicht nur die Weltwirtschaft verändert hat, sondern auch die Lage der Kultur. Und das nicht zum besseren.
Von der Lyrik zum „Verlangen nach Prosa“
Auch wenn die Lyrik einen schweren Stand hat, bleibt ihr Eugenijus Ališanka treu. Vor vielen Jahren einmal hat der Autor einen poetischen Text verfaßt und erkannt, daß er sich in diesem Bereich am wohlsten fühlt. Dem Verlangen nach Prosa begegnet er damit, daß er gelegentlich erzählende Gedichte verfaßt.
Heuer hat er einen Essayband veröffentlicht, den man auch als „Buch mit kurzen autobiographischen Geschichten“ bezeichnen könnte. „Ich hab das Erarbeiten der Texte sehr genossen – Sammeln von Material, Verdichtung und Auswahl, Verwaltung des Materials, usw. Das Buch hat die Aufmerksamkeit der Kritiker auf sich gezogen, jetzt steht es auf der Shortlist für das beste Prosabuch des Jahres.“
Der Frühling verwandelt die Fragmente. Wer weiß?
Und dieser erfreuliche Umstand hat seine Einstellung etwas verändert. Er sieht jetzt mehr Möglichkeit für Lyrik in die Prosa Eingang zu finden. Auf die Frage, ob er plane, vielleicht einmal einen Roman zu schreiben, meint Eugenijus, dass er gar nicht sagen kann, ob in seinem Inneren der Wunsch nach einem Roman reift, aber zumindest mag er sich der Prosa im Moment nicht verschließen.
Woran er hier in Krems geschrieben hat, waren jedenfalls keine Gedichte, sondern Textfragmente, die man als Essay, Kurzgeschichte, Kapitel eines Romans, was auch immer, bezeichnen könnte. Das literarische Genre ist ihm noch nicht ganz klar, es sind, wie gesagt, bloß Textfragmente. „Vielleicht schrumpfen sie über den Winter und verwandeln sich im Frühjahr zu Gedichten. Wer weiß …“
Eugenijus Ališanka, 1960 in Barnaul / Sibirien geboren, lebt in Vilnius. Er studierte Mathematik, publizierte sechs Lyrikbände, Essays und Übersetzungen. Seit 2003 gibt er die Vilnius Review heraus, die zeitgenössische litauische Literatur auf Englisch präsentiert. Zuletzt erschien von ihm auf Deutsch der Lyrikband „exemplum“ (Suhrkamp, 2011)
Buchcover „exemplum“: © suhrkamp
weitere Fotos von Eugenijus Ališanka: © Wolfgang Kühn
Fotos Altstadt Vilnius: © ehuth / pixelio
Fotos Vilnius Straßencafe und 3 Musen: © Dieter Schütz / pixelio
Abdruck Gedicht „Identitätskrise“: mit freundlicher Genehmigung des DuMonts-Verlags und von Eugenijus Ališanka