Wer hat das nicht schon einmal gedacht: Die Schule fördert nicht, sondern vergeudet die Talente und Begabungen der meisten Menschen. Eine starke These, die über Pfingsten ein internationales Symposium in St. Pölten diskutiert. Organisator und Inspirator der Veranstaltung ist Markus Distelberger. Moderne Region sprach mit ihm.
„Die Begabung zur Freiheit“
„Es ist ein Kernthema des Symposiums, den Begriff der Begabung ganz radikal zu hinterfragen“, sagt Markus Distelberger, der mit dem „7 Generationen Netzwerk“ das viertägige internationale Symposium in St. Pölten organisiert.
Der Symposiumstitel lautet demgemäß „Die Begabung zur Freiheit“. Sozusagen illustriert wird dies zum Beispiel von André Stern, einem der ausländischen Gäste, die am Symposium teilnehmen werden. Der Franzose Stern ist nie zur Schule gegangen. Er wurde Gitarrenbauer, Informatiker, Musiker und Komponist und leitet heute zwei Theaterensembles. Sein Buch „… und ich war nie in der Schule“ wird auch in Deutschland viel gelesen.
Kinder brauchen keinen Druck zum Lernen
„Es wäre für unsere Gesellschaft sehr wichtig, die Vielzahl der Begabungen bei der großen Zahl der Menschen wachsen, reifen und sich entwickeln zu lassen“, betont Markus Distelberger. Das tut das Schulsystem aber nicht. Im Gegenteil. „Ich sehe Schule und Verschulung als etwas Kritisches. Diese bedeuten viel eher eine Einschränkung des Lernens, im Grunde eine Art Verhinderung des Lernens und des Lernprozesses.“
Distelberger spricht aus Erfahrung. Vor 20 Jahren hat er die „Lernwerkstatt“ gegründet, die heute im Wasserschloss von Pottenbrunn (bei St. Pölten) zu Hause ist. Sie ist eine Schule der Freien Pädagogik mit rund 100 Kindern und Jugendlichen.
„Das ist unsere Erfahrung, die wir durch diese 20 Jahre Lernwerkstatt gemacht haben. Die Menschen haben von sich aus ein Interesse zu lernen und sich aktiv am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen. Für mich ist mittlerweile klar, dass Menschen keinen Druck brauchen, damit sie etwas tun und lernen. Dieser Druck ist sogar schädlich.“
Webereischule in Ägypten, Kinderrepublik in Kolumbien
Zum Symposium kommen wird auch Nina Al Awadly. Ihre Eltern gründeten 1976 eine Webereischule im ägyptischen Harrania, die Beduinen-Kinder durch vollständig freie, kreative Web-Arbeit zum Lernen und zu selbstbewusstem Leben führt. Die Idee geht zurück auf den ägyptischen Bildhauer und Architekten Ramses Wissa Wassef, der schon 1952 damit begann. Teppiche aus der Web-Schule in Harrania sind heute begehrte Kunst-Objekte.
Jose Louis Campo ist ein weiterer ausländischer Gast. Er ist in der „Kinderrepublik“ im spanischen Oreste aufgewachsen. Ab 1974 gründete er dann selbst in Kolumbien drei solcher Kinderrepubliken, in denen Straßenkinder ein echtes Zuhause finden – mit Freude am Gestalten, Schaffen, Lernen und miteinander leben.
Eine oberflächliche Diskussion der Bildungspolitik bringt wenig
Das Grundthema, sagt Distelberger, ist die Freiwilligkeit des Lernens und Arbeitens. Und dass sich Menschen im Leben, in der Gesellschaft tatsächlich einbringen. „Es bringt wenig, nur an der Oberfläche herumzudiskutieren. Oder über Ganztagesschule oder Mittelschule ja oder nein. Der Beitrag und das Anliegen des Symposiums an die Bildungspolitik ist, in der Diskussion tiefer zu gehen.“
Eingeladen zum Symposium sind auch Absolventen der „Lernwerkstatt“, die ganz unterschiedliche Lebenswege eingeschlagen haben. „Für mich ist sehr deutlich sichtbar, dass alle unsere Absolventen eine enorm hohe soziale Kompetenz entwickelt haben“, sagt Distelberger.
Soziale Kompetenz, das heißt für ihn: die Fähigkeit, zu kommunizieren, zu kooperieren und zu reflektieren. „Das sind total wichtige Grundfähigkeiten für ein gutes Funktionieren aller unserer gesellschaftlicher Bereiche.“ Dazu gehören seiner Ansicht nach auch noch die soziale Anteilnahme und die Fähigkeit, Dinge auszuprobieren und sich zu korrigieren.
Verantwortung für die Gesellschaft – viele fühlen sich inkompetent
Denn darum geht es: „Wir sollten Verantwortung übernehmen dafür, dass viele Dinge in unserer Gesellschaft einfach nicht gut laufen.“ Viele Menschen sind frustriert und nehmen an der Politik und am gesellschaftlichen Leben nicht teil. Interessieren sich nicht. „Für mich ist das ein gesellschaftspolitisches Anliegen und Problem, dass so viele Menschen nicht die Kraft haben und sich als nicht kompetent empfinden, sich zu beteiligen. Sie überlassen es einer kleinen Minderheit.“
Das Schulsystem vergeudet die Begabungen der Menschen
Der Schlüssel zu diesem Desinteresse, dieser inneren Abkehr ist für Distelberger das Bildungs- und Schulsystem. Es setzt auf Druck und orientiert an einem sehr verengten Wissen-Lernen. Das knüpft kaum Kontakt zur Lebenswelt der Schüler. Und schon gar nicht zur ganz persönlichen Entwicklung ihrer Interessen und vielseitigen Begabungen. „Stattdessen gibt es da immer ein Ranking. Der ist der beste. Und der ist noch besser, und der noch besser. Da wird sehr viel schlechtes Gewissen aufgebaut, du bist nicht gut genug. Nur um die Menschen anzutreiben.“
Das setzt sich fort im Konkurrenz- und Wettbewerbsdenken, dem wir in Wirtschaft und Gesellschaft fast überall unterliegen. Unzählige Neigungen, Fähigkeiten und Begabungen von Menschen bleiben dabei auf der Strecke. Enorme Potentiale, die vergeudet werden. „Begabung ist in viel, viel breiterem Maße und ganz vielfältig bei jedem Menschen vorhanden. Für uns als Gesellschaft ist es einfach sehr kontraproduktiv, so viele Menschen in ihrer Entwicklung so stark einzuschränken. Dabei wäre nur notwendig, den Kindern und Jugendlichen viel mehr Raum für die Eigenaktivität zur Verfügung zu stellen.“
Markus Distelberger ist Jurist, Rechtskonsulent und Mediator
und lebt mit seiner Familie in Herzogenburg.
Er ist Inspirator und Organisator des „7 Generationen Netzwerks“ und Obmann des „Gartens der Generationen“.
1990 hat er die „Lernwerkstatt“ (heute in Pottenbrunn) gegründet.
Das diesjährige 19. „Open Space Symposium“ des 7 Generationen Netzwerks unter dem Titel „Die Freiheit zur Begabung“ findet zu Pfingsten in St. Pölten statt
(10. – 13. Juni 2011).
weitere Informationen zum Symposium im:
Veranstaltungskalender der Modernen Region
Foto Artikelanfang: © Tomasz Trojanowski – Fotolia.com