“Wenn einer von uns stirbt …” – Sexueller Missbrauch an Kindern. Film und Diskussion im Cinema Paradiso

Filmbild Wenn einer von uns stirbt
Der Dokumentarfilm 'Wenn einer von uns stirbt, geh ich nach Paris' läuft seit einem Jahr erfolgreich in den deutschen Kinos.

Ein Film, der kaum zu ertragen ist. „Eigentlich ist das ein Thema, das keine Sprache hat“, sagte Regisseur Jan Schmitt. Seine Mutter nahm sich 53-jährig das Leben. „Ich kannte nur die innerliche Last, die sie getragen hatte. Was dahinter steckte, war mir völlig unbekannt.“

Vergangenen Montag präsentierte das Cinema Paradiso den Dokumentarfilm „Wenn einer von uns stirbt, geh ich nach Paris“. Thema des Films und der anschließenden Diskussion mit dem deutschen Regisseur Jan Schmitt: sexueller Missbrauch an Kindern. Der Film wurde gemeinsam mit proFrau – Plattform für Frauenrechte, unterstützt vom Frauenbüro der Stadt St. Pölten, gezeigt.

Zerbrochen an der Missbrauchs-Erfahrung

„Das ganze Leben stellt sich einem plötzlich ganz anders dar“, erzählte der Regisseur. Als Mädchen wurde seine Mutter vom leiblichen Vater und von einem Ordenspater missbraucht. Die leibliche Mutter wusste davon.

All die Jahre wurde es dennoch in der Familie verschwiegen. Ein mühseliges Puzzle für den Filmemacher, die Fakten herauszubekommen. Schließlich aber war es deutlich. Die seelische Last aus der Kindheit hatte seine Mutter in den Freitod getrieben.

Diskussion zum Film
Rund 9 Prozent aller Mädchen und 3 Prozent aller Buben dürften von sexuellem Missbrauch betroffen sein. Im Bild die Podiumsdiskussion: Maria Imlinger (Frauenhaus), Irene Kautsch (Kinderschutzzentrum möwe), Jan Schmitt (Regisseur) - v.l.n.r.

Alle sind entrüstet. Keiner will es wahrhaben.

„Unser Umgang mit dem Thema ist sehr widersprüchlich“, sagte Maria Imlinger, Leiterin im Frauenhaus St. Pölten, bei der Podiumsdiskussion. „Einerseits sind wir sehr über sexuellen Mißbrauch empört. Wenn es dann aber um konkrete Personen geht, dann werden die Aussagen der Kinder völlig angezweifelt.“

Geschätzt wird, dass 9 Prozent aller Mädchen und 3 Prozent aller Buben betroffen sind, berichtete Irene Kautsch, die Leiterin des Kinderschutzzentrums möwe in St. Pölten. Mädchen würden häufig Opfer im engen Kreis ihrer Familie. Buben eher außerhalb, im weiteren Umkreis. „Die weitaus meisten Opfer sind Mädchen, und zwar in den Familien“, so auch Imlinger. Die Diskussion über Missbrauch in kirchlichen Institutionen würde das ein Stück weit verdecken.

Die „bessere Mittelschicht“ ist Meister des Verleugnens

Besonders stark sei das Verleugnen in den Familien der Mittelschicht, war man sich auf dem Podium einig. „Je mehr es sozusagen ein gutes Bild einer Familie oder Person nach außen gibt, umso mehr ist die Zurückhaltung, sich dann auch wirklich dem Thema zu widmen“, so Kautsch. Die Aussagen der Kinder würden noch mehr angezweifelt, betonte auch Imlinger.

Und Schmitt: Sexueller Missbrauch an Kindern sei kein Phänomen einzelner sozialer Schichten, sondern in der ganzen, auch „besseren Gesellschaft“ vorhanden. Gerade die hitzige Mediendiskussion der letzten Monate habe das verdeutlicht.

Aufdecken ist schwierig. Wer das Tabu bricht, wird selbst zum Tabu

Veranstaltungsfoto: Diskussionsteilnehmer und Mitorganisatoren
Diskussionsteilnehmer und Mitorganisatoren: Martina Eigelsreiter (Frauenbeauftragte Stadt St. Pölten), Elfriede Bendl (Gemeinderätin St. Pölten), Jan Schmitt (Regisseur), Gabriele Frimberger (proFrau), Maria Imlinger (Frauenhaus St. Pölten), Irene Kautsch (Kinderschutzzentrum möwe) - v.l.n.r.

Das Aufdecken von Missbrauch ist äußerst schwierig. „Wer ein Tabu bricht, wird selbst tabuisiert“, machte Kautsch mit Hinweis auf Sigmund Freud deutlich. Die Opfer, die sich äußern, würden mit Isolation in der Familie bestraft. Das erlebte auch Schmitt: „Ich wurde eigentlich völlig isoliert und rausgebissen“.

Das große Problem sei, so Imlinger, wie man vorgehe. Nur selten komme es zu einer Anzeige und noch seltener zu einer gerichtlichen Verurteilung. Besonders schwierig sei diese Situation, wenn Kleinkinder betroffen sind.

„Ich kann mich noch an dieses Ticken erinnern, der Uhr im Haus meiner Großeltern. Immer diese Stille dort, diese Schwere, dieses große Schweigen, diese Last. Hinterher habe ich erst begriffen, was das bedeutet hat“, meinte der Filmemacher Jan Schmitt.

Infos zu Film und Veranstaltung:
„Wenn einer von uns stirbt, geh ich nach Paris“
Deutschland, 2009
Buch & Regie: Jan Schmitt
weitere Infos: www.schmitt-film.de
präsentiert am 6. Dezember von Cinema Paradiso und ProFrau, unterstützt vom Frauenbüro St. Pölten.
Am Folgetag wurde der Film beim „3. Internationalen Filmfestival für Menschenrechte – this human world“ in Wien aufgeführt.